„Erleuchtete Fenster hatte man seit vielen Jahren nicht gesehen ...“

05.12.1997

Projekt des Stadtarchivs: Erinnerungen an die Nachkriegszeit in Münster als Buch erschienen / Zeitzeugen berichten

(SMS) „Wir haben zu Hause sogar, weil mein Vater so gern rauchte, Tabak angebaut im Garten. Mein Vater war sonst gar nicht für Gartenarbeit zu begeistern, aber damals haben wir Tabak, ich glaube, gesät...“ Am Ende wuchsen, so erinnert sich die heute 73jährige, hohe Pflanzen mit großen Blättern, die aufgefädelt und getrocknet dann begehrtes Tauschobjekt waren. Tauschware für Güter, die man zum Leben, zum Überleben benötigte. Diese Erinnerungen an die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Münster fügen sich mit Berichten von weiteren 51 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu einem historischen und spannenden Lesebuch. Titel: „Geschichte im Gespräch. Kriegsende 1945 und Nachkriegszeit in Münster“, herausgegeben vom Stadtarchiv.

Fast zwei Jahre lang arbeitete die Historikerin Sabine Heise im Auftrag des Archivs an dem Projekt, in dem Münsteraner, manchmal in mehrstündigen Gesprächen, Auskunft gaben über die Jahre des Neubeginns. Gedanken und Gefühle kamen zur Sprache, Ängste und Enttäuschungen, aber auch Nachbarschaftshilfe und Zusammenhalt. Entstanden aus den Schilderungen ist ein facettenreiches Bild der Jahre nach 1945, bei dem die individuelle, private Bewältigung des Alltags im Mittelpunkt steht. Der Dank der Herausgeber, Franz-Josef Jakobi und Roswitha Link, gilt daher auch den Menschen, die sich für die Interviews zur Verfügung stellten: „Ohne die Bereitschaft der Zeitzeugen sich zu erinnern und zu erzählen, hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können“.

Ein Stück Stadtgeschichte Aus dem gesamten Bestand der Interviews - mehr als 2 300 Seiten - wurden zusammenhängende Passagen zu verschiedenen Aspekten des Nachkriegsalltags für das Buch ausgewählt. „Durch die persönliche Schilderung der Frauen und Männer ist ein detailliertes und anschauliches Bild jener Jahre entstanden, das zugleich ein Stück Stadtgeschichte spiegelt“, so Sabine Heise. Die Befragten erzählen ´erlebte´ Geschichte. In der Rückblende wird der Einmarsch der Amerikaner und Briten lebendig, der Wiedereinstieg in den Beruf oder der Aufbau einer neuen Existenz. Sie berichten von ihren Gefühlen am Ende des Krieges. So wie die 77jährige, die die ersten Tage im Frieden in Albachten verbrachte: „Dinge, die heute einfach klingen, machten einen geradezu glücklich. Zum Beispiel die Tatsache, daß man abends Licht brennen lassen konnte. Erleuchtete Fenster hatte man seit vielen Jahren nicht gesehen, und das gab einem irgendwie das Gefühl, daß Frieden wäre“.

Brauerei-Eisbeutel linderten Krankheit Andere Passagen vermitteln besonders auch jungen Leserinnen und Lesern eine Ahnung von damaligen Improvisationskünsten: Mit Eisbeuteln aus der Germania Brauerei wurde ein Schädelbasisbruch gekühlt und erfolgreich geheilt. Für ein Stück „gute Butter“ durfte eine völlig fremde Münster-Besucherin im beengeten Zimmer nächtigen, der Rest rückte für diese Kostbarkeit noch mehr zusammen. Mangel herrschte an allem, auch an Kleidung und Schuhen. Es war eben das letzte Bettuch, aus dem die Mutter dem Lebensmittellehrling die geforderten zwei weißen Schürzen nähte, und der Speckbrett-Schläger für die dürftige Freizeit wurde halt aus einem Stück Holz geschnitzt.

Durch die subjektive Schilderungen der Befragten aus unterschiedlichen Altersgruppen und Milieus werden Entwicklungen und Handlungen in den Nachkriegsjahren konkret und verständlich. „Vieles in diesem Buch war bisher der Öffentlichkeit kaum zugänglich“, betont Archivdirektor Prof. Dr. Franz Josef-Jakobi den Wert dieser Publikation, die von Fotografien und anderen Bilddokumenten ergänzt wird. Alle Interviews, nicht nur die gedruckten, wurden auf Tonband aufgezeichnet und im Archiv unter Mithilfe von Gerburg Harenbrock vollständig transkribiert. Einige Zeitzeugen haben schon jetzt ihre Gespräche freigegeben, so daß diese Tonbänder und Texte nunmehr einen Fundus in der Abteilung „Stadtgeschichtliche Dokumentation“ im Archiv an der Hörsterstraße bilden.

Projekt „50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“ Das Buch „Geschichte im Gespräch“ gehört zum Projekt „50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Münster in der Nachkriegszeit“, das vom Stadtarchiv im Auftrag des Rates durchgeführt worden ist. „Wir hoffen, daß mit diesem Buch als Projektabschluß nicht auch die Diskussion beendet ist, sondern intensiv weitergeführt wird“, so Mitherausgeberin Roswitha Link. Erinnerungen an positive wie negative Phasen der Geschichte bedüften des dauernden generationsübergreifenden Austausches.

„Geschichte im Gespräch: Kriegsende 1945 und Nachkriegszeit in Münster“. Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bearbeitet von Sabine Heise unter Mitarbeit von Gerburg Harenbrock. Im Auftrag der Stadt Münster herausgegeben von Franz-Josef Jakobi und Roswitha Link. agenda Verlag Münster, 1997. ISBN: 3-89688-021-7 (DM 39.80)

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