10.12.1998

Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1935

Neuerscheinung rückt Miteinander von Juden und Christen in Münster in den Mittelpunkt / Nachfolgewerk vom biografischen Lexikon / Zweiter Teilband wird folgen

(SMS) "Wider das Vergessen" - dieses Anliegen steht für die persönliche Initiative von Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer, die Geschichte der ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürger Münsters zu erforschen. Nach ihrem biografischen Lexikon, 1995 als Gedenkbuch für die Opfer von Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung erschienen, legen die beiden Autorinnen jetzt die Publikation "Jüdische Familien in Münster 1918 - 1935 vor. Basis des nahezu 600 Seiten umfassenden Werkes bildet ihr in zehn Jahren recherchiertes Material, darunter eine Fülle von Gesprächen mit Zeitzeugen sowie unveröffentlichte Foto- und Textdokumente aus Privatbesitz und den Archiven aus allen Teilen der Welt. Ebenso wie das biografische Lexikon ist diese Publikation das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Fachliche Begleitung erhielten die Autorinnen von den Herausgebern, Franz-Josef Jakobi, Susanne Freund, Andreas Determann und Diethard Aschoff. In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und dem Institutum Judaicum Delitzschianum der Westfälischen Wilhelms-Universität hat das Stadtarchiv nach einem entsprechenden Ratsauftrag seit 1991 die fachliche Betreuung dieses Forschungsprojektes. Stellte der erste Band Einzelschicksale von mehr als 1400 ehemaligen jüdischen Bürgern mit ihren Familien vor, rückt die Neuerscheinung das Miteinander von Juden und Christen in Münster in den Mittelpunkt. "Zentrales Thema ist die Vielfalt der Anschauungen und der Lebensformen der jüdischen Minorität", so Stadtarchivdirektor und Herausgeber Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi. Für den erforschten Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Verabschiedung der "Nürnberger Gesetze" 1935 wurden Themen ausgewählt, die ausdrücklich den eigentlichen Kontakt von Juden und Nichtjuden im Alltag berühren - Schule, Studium, Handel und Gewerbe, öffentliche Meinung im Spiegel der Medien. Der Band vergegenwärtigt die Bedeutung des gesamten Personenkreises für die Geschichte der Stadt Münster. Die Autorinnen haben mit der Redakteurin und Herausgeberin Dr. Susanne Freund vier ausgewählte Themenbereiche jeweils in Einzelaufsätzen dargestellt. Ergänzt werden sie von einem umfangreichen Quellenfundus an Fotos und anderen Dokumenten aus Privatbesitz sowie ausführlichen Interviewpassagen.

"...daß wir Außenseiter sind" Die Themen stehen in dem Buch exemplarisch für die Vielzahl unterschiedlichster Aspekte jüdischen Lebens in diesen Übergangsjahren von einem zunächst demokratisch-politischen System zur diktatorischen "Rassenideologie" der Nationalsozialisten. Am Beispiel "Bildung" lebt etwa der Schulalltag jüdischer Kinder aus der Sicht von Zeitzeugen auf: "Bleib da´. Komm´ nicht nahe zu uns heran", erinnert sich Erich Waldeck an Abwehr und Häme auf der "Städtischen Oberrealschule". Seine Mitschüler waren der Aufforderung ihres Religionslehrers gefolgt, "sich die Juden ´vom Leibe´ zu halten". Rudi Neumark legte Mitte der 20er Jahre am Städtischen Gymnasium sein Abitur ab: Wir mußten "sehr vorsichtig sein, immer, daß wir nicht auffallen, daß wir keine falschen Bemerkungen machen, daß die Leute nicht hinter uns herrufen und so weiter. (...) Wir waren uns dauernd bewußt, daß wir Außenseiter sind". Andere Beiträge in diesem Abschnitt beleuchten Studium und Lehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer dokumentieren das politische Engagement jüdischer Studenten, skizzieren die Entlassung Münsteraner Hochschullehrer aus "rassischen" und politischen Gründen und die Reaktion der Betroffenen zu Beginn des NS-Regimes.

Jüdische Bürger im Spiegel der Lokalpresse Wesentliche Aspekte im täglichen Miteinander lassen sich auch im Themenbereich "Gewerbe und Handel" ablesen. Der Frage, inwieweit jüdische Münsteraner im Handel etabliert waren, wird anhand der Vieh- und Getreidehändler und der Geschäftsleute nachgegangen, die ein Ladenlokal betrieben. Analysiert das Eingangskapitel im Buch das Selbstverständnis jüdischer Münsteraner im Ersten Weltkrieg, so stellt das letzte Kapitel die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung der jüdischen Minderheit. Wie nahmen nichtjüdische Münsteraner ihre jüdischen Mitbürger etwa im Spiegel der Lokalpresse wahr, ist hier eine der Fragestellungen. Vor allem die Bildquellen bieten Einblick in den privaten und den öffentlichen Raum, in dem sich jüdische Münsteraner bewegten, bzw. bewegen mußten. Gesetze und Verordnungen, Diskriminierung und Ausgrenzung schlugen sich nicht nur in Akten nieder, sondern sind ebenso ablesbar an Zeitungsannoncen, Pressemitteilungen und Fotodokumenten. Teilband 2,2 führt zum Holocaust

Aufgrund der Fülle des Gesamtmaterials - es ist durch die kontinuierlich weitergeführten Recherchen und Korrespondenzen der Autorinnen enorm angewachsen - wird es einen zweiten Teilband geben. Der nächste umfaßt den Zeitraum 1935/36 bis 1945 sowie Rückblicke der Überlebenden und ihrer Nachfahren. Das gesamte Material der "Sammlung Möllenhoff/Schlautmann-Overmeyer" wird in die fürs Stadtarchiv geplante Abteilung "Stadtgeschichtliche Dokumentation" integriert und für weitere Forschungen zur Verfügung stehen.

"Jüdische Familien in Münster 1918-1945. Teil 2,1: Abhandlungen und Dokumente 1918-1935" von Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer. Im Auftrag der Stadt Münster, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster e.V., des Institutum Judaicum Delitzschianum der Westfälischen Wilhelms-Universität, herausgegeben von Franz-Josef Jakobi, Susanne Freund, Andreas Determann, Diethard Aschoff. Münster, 1998, Verlag Westfälisches Dampfboot, 78 Mark.