Mit dem Eintrag vom 29. Oktober 1918 schließt Eduard Schulte seine Kriegschronik mit dem Hinweis: Die Ereignisse des November zu schildern, muß der Fortsetzung dieses Kriegstagebuches, der 'Revolutionschronik der Stadt Münster' überlassen werden. Die wachsenden Anzeichen der Auflösung, der plötzliche Zusammenbruch der Heimat und der bewegte Verlauf der Revolution sind dort eingehend geschildert.'
Die Chronikeinträge zum Kriegsende 1918 stammen aus der 'Revolutionschronik': Eduard Schulte: Münstersche Chronik zu Novemberrevolte und Separatismus 1918. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster 7), Münster 1936.
Ende Oktober 1918 bahnt sich der Anfang vom Ende an. Die deutschen Frühjahrsoffensiven an der Westfront bringen keine militärische Wende. Die Alliierten erzwingen den Rückzug der deutschen Truppen. Die deutsche Regierung macht Waffenstillstandsangebote. Die offiziellen Berichte verschleiern Tatsachen.
'Der Heeresbericht meldet von starkem Widerstand unserer Westtruppen auf einer Front von ungewöhnlicher Ausdehnung und gibt zum Teil erfolgreiche Kämpfe an der Front bekannt.
Westfälische Regimenter zeichneten sich dabei besonders aus.'
Die innere Lage wird zunehmend schwierig. Es kommt zur Meuterei von Matrosen in Wilhelmshaven. Der revolutionäre Funke springt in kurzer Zeit auf größere Städte über. Arbeiter- und Soldatenräte bilden sich nach sowjetischem Muster. Die politischen Verhältnisse sind im Umbruch. Ab 8. November befinden sich auch münsterische Soldaten in Aufruhr. Die revolutionären Unruhen sind in Münster zwar nicht so ausgeprägt, aber auch hier bildet sich ein Arbeiter- und Soldatenrat.
'Münster bietet das Bild einer Stadt vor dem Sturm. Auf allen Straßen ziehen militärische Sicherheitsabteilungen in Helm mit Gewehr durch die Stadt, zu vieren oder zu achten, unter Führung von Feldwebeln, Unteroffizieren oder Sergeanten. Von den Mauern mahnen Plakate des Oberbürgermeisters. Viele Leute halten sich aus Furcht vor Zusammenstößen zu Hause. Die Straßen sind fast leer. Der sonst so belebte Prinzipalmarkt ist wie ausgestorben. Auf allen lastet der Druck der militärischen Katastrophe, die Wucht der Hiobsposten aus dem Reich und die Ungewißheit der Stunde.'
'Während, dem Zeitgeist von 'Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit' entsprechend, das Stadttheater Schillers 'Räuber' über die Bretter gehen ließ, machte Kaserne und Straße Revolution, obwohl schon um 5 ½ Uhr die kampflose Kapitulation erfolgt war. Gegen 9 Uhr verließen große Teile des Ersatz-Bataillons der Dreizehner die Ägidiikaserne und zogen in ungeordnetem Zuge zur Lotharinger- und Hörsterkaserne, wo das 22. Landsturmbataillon lag. Von den alten Mannschaften und Familienvätern dieses Bataillons ging jedoch niemand mit. Auf der Wache der Kaserne wurde ein Arrestant 'befreit'.'
Am 11. November findet die Unterzeichnung des Waffenstillstands statt. Noch am selben Tag schweigen die Waffen. Der blutige Krieg hat über zehn Millionen Menschenleben gekostet, davon zwei Millionen auf deutscher Seite, und unendliches Leid erzeugt. Die militärische Niederlage besiegelt das Ende des Kaiserreiches. Der Versailler Friedensvertrag legt Deutschland harte Bedingungen auf
'Heute Mittag um 12 Uhr sind nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes die Feindseligkeiten eingestellt!'
'Mit der wichtigen Frage der Arbeitsbeschaffung bei der bevorstehenden Demobilmachung, die für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung von größter Bedeutung ist, beschäftigten sich Zeitungsaufsätze und Beratungen.'
'Die Soldatenbewegung geht hier, abgesehen von einigen Übergriffen undisziplinierter Elemente, im allgemeinen weiter ruhig vor sich.'
'In den letzten Tagen sind Kriegsgefangene in größeren Mengen ohne Anweisung der Gefangenen-Inspektion in die Sammellager geschickt worden. Infolge der durch diese eigenmächtige Zusendung entstandenen Anhäufungen von Kriegsgefangenen ist in den Gefangenenlagern ein unhaltbarer Zustand eingetreten. Eine geordnete Unterbringung, Verpflegung und Bewachung der Kriegsgefangenen wird unmöglich.'
'Die Demobilmachung des deutschen Heeres und der deutschen Kriegsmarine ist verfügt.'
'Am Nachmittag begann der Abtransport der Kriegsgefangenen: 1.000 Engländer fuhren über Holland heimwärts.
Im Lager Rennbahn zerschlugen und vergruben Franzosen viele hundert Negative von Bildnisaufnahmen der Kriegsgefangenen.'
'Die Entente hat jede Milderung der Waffenstillstandsbedingungen abgelehnt, auch die erbetene Aufhebung der Blockade, so daß der Hungerkrieg ungemindert weitergeht.'
'Unter jubelnden Zurufen, Tücherschwenken und Hütewinken zog am Nachmittag um 4 Uhr mit Musik, Gesang und wehenden Fahnen in den sächsischen Landesfarben das Schützenregiment Nr. 108 über den Prinzipalmarkt als erster größerer Truppenteil, der auf dem Marsche zur Demobilmachung Münster berührte.'
'Feierliches Glockengeläute von allen Kirchtürmen der Stadt begrüßte um die Mittagsstunde den Vortrupp der 4. Armee bei seinem Einzug in die Stadt. Die Straßen waren mit Fahnen in schwarz-weiß-roten und schwarz-weißen Farben geschmückt und mit winkenden Menschen gefüllt. Auf der Hammer Straße und Weseler Straße sowie am Hauptbahnhof standen Ehrenpforten.'
'Große Trupps von Kriegsgefangenen treffen mit Kisten und Säcken von den auswärtigen Arbeitsstellen in den hiesigen Gefangenenlagern ein, wo die Transporte für die Rückkehr zusammengestellt werden. Kinder stehen mit Bollerwagen an den Bahnhöfen und vermieten sich zur Beförderung des Gepäcks der Kriegsgefangenen. Zahlreiche Transporte sind schon nach Holland abgegangen. In der Stadt sind die losen Gruppen der Kriegsgefangenen schon zum täglichen Schauspiel geworden.'
'Unglaubliche Zustände – so schreibt man dem Münsterischen Anzeiger – herrschen zur Zeit am hiesigen Bahnhof bei dem Abtransport der hier ankommenden einzelnen kranken und verwundeten Soldaten. Stundenlang müssen die armen Menschen, die meist schon längere Bahnfahrten hinter sich haben, auf ihre Überführung in die Lazarette warten. Es ist nichts seltenes und auch nicht Übertreibung, daß bis zum Eintreffen des einzigen Krankenautos 5-7 Stunden vergehen. Deutsche Soldaten und gefangene Feinde haben dadurch Strapazen und Leiden zu erdulden, die sie nicht vergessen werden. Die an der Bahn stationierte sogenannte Sanitätswache und die im Dienste des Roten Kreuzes stehenden Damen behaupten, diesen traurigen Zuständen machtlos gegenüber zu stehen.'
'Wochenlang erwartet, tagelang vorbereitet, gestaltete sich der Empfang des Infanterie-Regiments Nr. 13 zu einer gewaltigen, unvergeßlichen, denkwürdigen Feier. Wie immer war auch an diesem Tage der Prinzipalmarkt das pulsende Herz der ganzen Stadt und der Freiluftfestsaal der ganzen, bitterschönen Feier. Vom Gipfel des Rathauses hing das große Banner herunter über die Tannengirlanden der Bogenhalle und über die fahnengeschmückten, begrünten Masten der vor ihr aufgeschlagenen Tribüne. Haus für Haus im Flaggenschmuck alter, wohlvertrauter Farben. Zwischen dem Sentenzbogen und Coppenraths Ecke hing eine Girlande an zwei großen Masten und in ihrer Mitte ein Schild mit einem Reimgeschmiede von Maria Findeklee: Willkommen in der Heimat wieder / nach wilden Kämpfen, Not und Qual, / ihr unbesiegten Heldenbrüder, / wir grüßen Euch vieltausendmal. / Für uns habt blutend Ihr gerungen, / gezahlt den Feinden nach Gebühr. / Der Heimat Schutz ist Euch gelungen. / Nehmt heißen Herzensdank dafür!'
'Mit derselben Dankbarkeit, Begeisterung, Liebe und Freude, demselben Flaggen- und Grünschmuck, wie vor 12 Tagen die Dreizehner, wurde heute Mittag das 1. Westfälische Feldartillerie-Regiment Nr. 22 begrüßt. Auch dieses Mal war das Rathaus der erhebende Mittelpunkt der Empfangsfeier für die 900 Mann, die von ihrem letzten Quartier in Drensteinfurt heute Morgen aufgebrochen und in Hiltrup von der Musikkapelle des Missionshauses begrüßt waren.'
'Durch die militärischen Entlassungen steigt der Personenstand unserer Zivilbevölkerung täglich um durchschnittlich 500 Köpfe.'
'In diesem Monat stieg die Zahl der Formationen, die vom Garnisonkommando hier zwecks Demobilisation oder beim Durchzug einquartiert wurden, auf 640. Im November waren es 235 Formationen gewesen.'