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Ein Ort der Erinnerung

Ankommender Flüchtlingstransport, 1946. (dpa. Frankfurt am Main) Am 5. April 2003 wurde am Servatiiplatz in Münster, also an einem zentralen Ort in der Stadt, ein zweiteiliger Gedenkstein an die Bürgerinnen und Bürger übergeben.

Er erinnert an Flucht und Vertreibung vieler Deutscher aus Ost-, Süd- und Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Großes Leid erlebten Polen und Deutsche durch den brutalen Angriffskrieg Deutschlands. Die von deutscher Seite aus staatlich angeordneten und durchgeführten Massenmorde sowie die gnadenlose Vernichtungspolitik führten dazu, dass es heute in Polen keine Familie gibt, die nicht Angehörige im Krieg verloren hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zielte die Politik Warschaus drauf ab, die Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße zu verdrängen. Dabei ging die polnische Miliz rücksichtslos vor, Tausende starben unter erbärmlichen Umständen. Der Historiker Thomas Urban weist jedoch darauf hin, dass die „Summe der dokumentierten polnischen Repressionen … nur einen Bruchteil der deutschen aus(macht): Es wurden um ein Vielfaches mehr Polen Opfer der Deutschen als Deutsche Opfer der Polen.“ (Aus: Thomas Urban, Der Verlust, S. 14)

Bodenplatte des Denkmals für Vertriebene am Servatiiplatz (Foto: Barbara Dierig) Mit dem Denkmal für die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen soll auch deren „Beitrag zum Wiederaufbau und zur Errichtung eines demokratischen Gemeinwesens“ in Münster gewürdigt werden, so steht es in der Inschrift.

Nora und Katja erforschten die Geschichte von Heimatvertriebenen in Münster und führten dazu mehrere Gespräche. Auch Janis beteiligte sich an diesem Thema.

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Vertreibung aus Schlesien und Aufnahme in Münster

Katja und Nora im Gespräch mit Harald Dierig (Foto: Ingrid Fisch) Harald Dierig hat sich intensiv mit der Thematik beschäftigt. Mit Katja und Nora führte er ein ausführliches Gespräch (Auszüge aus dem Interview):

Die Gründe der Vertreibung
Zur Vertreibung der Bevölkerung aus den ehemals deutschen Ostprovinzen, von der auch die Schlesier betroffen waren, haben mehrere Faktoren beigetragen. Ein bedeutsamer Grund war, dass 1939, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, sich Hitler und Stalin verbündet hatten, der polnische Staat zwischen ihnen aufgeteilt wurde und dass Stalin nach der militärischen Niederlage Deutschlands zugunsten der Sowjetunion eine Ost-West-Verschiebung Polens auf Kosten Deutschlands durchsetzte.

Der Historiker Thomas Urban führt dazu in seinem Buch Der Verlust unter anderem aus (S. 96):
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges annektierte das Deutsche Reich weite Gebiete im Westen und Nordwesten Polens, die Sowjetunion den Osten des Landes. Der britische Premier Churchill und US-Präsident Roosevelt akzeptierten 1943 auf der Konferenz von Teheran den Wunsch des Kremlchefs Stalin, dass Ostpolen sowjetisch bleiben solle. Polen solle dafür mit ‚Gebietszuwachs’ im Westen und Norden entschädigt werden. Auf den Konferenzen von Jalta im Februar 1945 sowie Potsdam im August 1945 präzisierten die ‚großen Drei’ ihre Vereinbarungen, zu denen der ‚Transfer’ der deutschen Bevölkerung gehörte.
Das Potsdamer Protokoll bestimmt in Artikel XIII, dass jede derartige Überführung … in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen solle. Thomas Urban legt in seinem vorerwähnten Buch (S. 122) dar: Zeugnisse von Tausenden von Vertriebenen belegen, dass von ‚geordneter und humaner’ Umsiedlung nicht die Rede sein konnte. Sie wurden Opfer der Willkür …

Zur Verdeutlichung hält Thomas Urban in seinem Buch (S. 13) fest: Wohl niemand bezweifelt, dass die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Folge des deutschen Angriffs -und Vernichtungskrieges in Osteuropa waren.

Die Vertreibung (in Zahlen)
Anfang 1945 flüchteten vor der Roten Arme von den 4,5 Millionen Schlesiern Hunderttausende nach Westen; ihnen wurde nach Kriegsende die Rückkehr in ihre Heimatorte versperrt. Die größten Vertreibungsvorgänge fanden 1946 statt. Allein in diesem Jahr mussten die ländlichen Bereiche der britischen Zone mehr als eine Millionen Schlesier in einem kurzen Zeitraum aufnehmen, davon allein Westfalen innerhalb weniger Monate über 300.000. Vorwiegend wurden Frauen mit ihren Kindern und ältere Leute mit der Eisenbahn in den Westen transportiert; die meisten Männer befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft. Im Jahre 1950 wurden etwa 2,1 Millionen vertriebene Schlesier im Bundesgebiet gezählt, in Münster und Umgebung etwa 11.000, mit steigender Tendenz. Schätzungsweise haben heute mindestens 20 Prozent der Einwohner Münsters ihre Wurzeln in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, davon etwa die Hälfte in Schlesien.

In den Zügen
Wenn die Vertriebenen 1946 Glück hatten, dauerte der Transport mit den so genannten Schwalbezügen 14 Tage. Doch dies war selten der Fall. Dazu kam auch noch die Zeit, die die Schlesier brauchten, um von ihrem Wohnort bis zu den Sammelplätzen zu gelangen. Von dort aus mussten sie zu Fuß zu den Bahnhöfen laufen. Die Norm war, dass man 20 Kilogramm pro Person, Essen für eine Woche und 500 Reichsmark mitnehmen durfte.

Die Leute erfuhren oft erst eine halbe Stunde vorher, dass sie ihr Zuhause verlassen und es den Polen überlassen mussten. Todesfälle auf dem Transport gingen meistens auf die schlechten hygienischen Verhältnisse (Seuchengefahr) zurück. Unter den Opfern waren besonders Säuglinge und Kinder. Doch auch Frauen erlitten psychische, bleibende Schäden; sie wurden oft Opfer von Gewalt. Auf den Bahnhöfen wurde geplündert und geraubt.

In einem Vieh- oder Güterwaggon sollten eigentlich 30 Schlesier transportiert werden, doch es waren eher an die 40. Somit befanden sich in einem Schwalbezug rund 1.500 Menschen und mehr. In jedem Waggon war ein Eimer für die Notdurft, die auch beim Anhalten der Züge erledigt werden konnte. Zudem wurde dann frisches Wasser zum Beispiel an Zapfstellen geholt und nach Feuerholz und Essen gesucht, da großer Nahrungsmangel herrschte. Manchmal jedoch fuhren die Züge los, bevor alle wieder zurück waren. So wurden Kinder zu Waisen, die heute noch ihre verloren gegangenen Eltern suchen.

Von Lager zu Lager
Nissenhütten nannte man diese Notwohnungen nach dem 2. Weltkrieg. (Foto: Stadtarchiv Münster) Nach Überschreiten der Grenze zur britischen Besatzungszone wurden die Vertriebenen zum ersten Mal registriert, ärztlich untersucht und noch einmal mit einem Spezialpulver gegen Seuchen desinfiziert. Dies geschah in grenznahen Auffanglagern, zum Beispiel in Mariental, Kreis Helmstedt, das die meisten Vertriebenen, die jetzt im Münsterland leben, damals passieren mussten. Von dort gelangten die Ausgewiesenen in Personenwaggons in landesweit eingerichtete Durchgangslager, wie zum Beispiel in das Lager Warendorf (im Landgestüt untergebracht), und von dort mit Lkw in die Auffanglager im Münsterland, zum Beispiel in das Lager des Kreises Münster in den Klatenbergen bei Telgte, in die ehemaligen Baracken des Reichsarbeitsdienstes.

Der Empfang im Münsterland
Die Stadt Münster blieb aufgrund ihrer Zerstörung offiziell zunächst von der Pflicht zur Aufnahme von Vertriebenen befreit. Hier erhielten bis 1950 in der Regel nur Bauarbeiter unter den Vertriebenen mit ihren Familien Zuzugsrecht. Trotzdem sickerten viele andere Ostvertriebene aus dem Umland und aus anderen ursprünglichen Aufnahmegebieten in die Stadt Münster ein, zu der später auch ein Großteil des Landkreises gehörte.

Die Vertriebenen aus den Schwalbezügen wurden auf Bauernhöfe, in denen sie meistens in die Unterkünfte der Mägde und Knechte eingewiesen wurden, verteilt, da die Landwirte Selbstversorger waren und diese nach Meinung der britischen Besatzungsmacht die Vertriebenen miternähren konnten. Die Einheimischen waren in der Regel nicht sehr begeistert, fremde Menschen in ihr Haus aufzunehmen, wobei es auch Ausnahmen gab.

Zu bedenken ist, dass in den Dörfern noch viele Bombenevakuierte einquartiert worden waren. Es kam dazu, dass plötzlich schon insgesamt eine Million mehr Menschen in Westfalen lebten und versorgt werden mussten. Die Folge: es gab nicht immer ausreichend Nahrungsmittel sowie Kleidung und Hausrat. Zudem litten die Bauern auch unter den Nachwirkungen des Krieges. Erst im Laufe der Zeit gewöhnte man sich aneinander.

Zu festlichen Anlässen werden die Trachten der alten Heimat gezeigt. (Foto: Stadtarchiv Münster)Die Lebensumstände im Aufnahmegebiet
Die Männer fanden vorwiegend in der Landwirtschaft Arbeit oder sie ließen sich später umschulen, zum Beispiel zum Maurer, da man durch den Wiederaufbau Münsters „gutes“ Geld verdienen konnte; einige wanderten in den Bergbau ab. Für die Frauen war es besonders schlimm, dass sie hier anfangs keinen eigenen Haushalt hatten, nicht einmal einen eigenen Herd. Deswegen lebten manche Familien später lieber in Baracken oder in so genannten Nissenhütten, die zum Beispiel in der Innenstadt von Münster aufgestellt worden waren. Die vielen vertriebenen Landwirte konnten oft nur als landwirtschaftliche Gehilfen arbeiten, da zu wenig Land für eigenständige Betriebe zur Verfügung stand. Dies war für viele ein sozialer Abstieg, wodurch Probleme und Belastungen seelischer Art entstanden. Dies traf ähnlich alle Selbstständigen, die plötzlich auf Fürsorgeunterstützung angewiesen waren. Auch die unterschiedliche Konfession erschwerte anfangs die Integration. Ferner wurden die Schlesier und die anderen Ostdeutschen manchmal beschimpft und als „Pollacken“ oder „Leute mit Schnee in der Tasche“ bezeichnet. Zudem hatten viele Vertriebene noch mit ihren Vertreibungserfahrungen (Traumata) zu kämpfen. Sie alle suchten in der Anfangszeit Anschluss bei Leuten, die das gleiche Schicksal erlitten hatten.

Mutter mit 5 Kindern in einer kleinen Notwohnung nach dem 2. Weltkrieg (Foto: Stadtarchiv) Unterkünfte in der Loddenheide, ein Beispiel für Elendsquartiere
Anfang 1946 fanden die ersten ostdeutschen Bauarbeiter in den stark beschädigten Wehrmachtsgebäuden des ehemaligen Fliegerhorsts Loddenheide eine Notunterkunft. Vor allem durch hinzukommende Angehörige wuchs dort die Zahl der Ostvertriebenen schnell auf einige Hundert an. 1947 wurden die Unterkünfte in der Loddenheide als eines der schlimmsten Elendsquartiere in der britischen Zone beschrieben. Es wird von einzelnen Wohnräumen ohne Fenster und Türen berichtet. Zudem waren die sanitären Verhältnisse katastrophal.

Feuchte Wohnung einer Flüchtlingsfamilie, 1949 (Foto: Stadtarchiv Münster) Im selben Jahr gründete der evangelische Pfarrer Dr. Heinz Hunger (1907-1995) mithilfe des Evangelischen Hilfswerks den „Betreuungsring Loddenheide“. Dort kamen auch die schlechten sanitären Verhältnisse zur Sprache. Dennoch verbesserte sich die Situation der etwa 1.000 Menschen nur nach und nach. Der von der evangelischen Kirchengemeinde eröffnete Kindergarten mit Tagesheim wurde gut angenommen. Für viele Bewohner änderten sich die Wohnverhältnisse erst 1950 mit dem Bau von Versorgungsleitungen und der Instandsetzung von Gebäuden. Schließlich wurde die Notsiedlung Mitte der 60er Jahre aufgelöst, nachdem die Vertriebenen endlich eine normale Wohnung zugeteilt bekommen oder aber mit großen Anstrengungen ein Siedlungshäuschen errichtet hatten.

Weitere Informationen:
Neuanfang in Münster, Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Münster von 1945 bis heute, hrsg. von der Gesellschaft für Ostdeutsche Kulturarbeit Münster e.V., Münster 1996

Lesenswert:
Helga Hirsch, Schweres Gepäck. Flucht und Vertreibung als Lebensthema, Hamburg 2004

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