Interview mit Rosemarie Maibaum
Den Fluchtversuch unter dem Beschuss von Tieffliegern empfand sie als viel schlimmer als die spätere Vertreibung, erinnert sich Rosemarie Maibaum an die Jahre 1945 und 1946. Doch ihr sind auch noch die mangelnden hygienischen Verhältnisse in den Viehwaggons im Gedächtnis, mit denen sie und ihre Familie nach Westen transportiert wurden. Katja und Nora sprachen mit ihr.
Rosemarie Maibaum ist die Tochter eines Kaufmanns und Enkelin eines Konditors. Sie stammt aus einer evangelischen Familie und war das älteste von drei Kindern. Ihre Geschwister waren bei der Vertreibung 1946 fünf und elf Jahre alt. Sie selbst war 16 Jahre alt. Ihre Familie besaß ein großes Haus mit einem gut laufendem Geschäft sowie einer Konditorei mit Café in Niederschlesien.
Liebe Frau Maibaum! Würden Sie uns berichten, wann Sie geflüchtet sind?
Kurz vor Ende des Krieges 1945 versuchten wir zu flüchten. Als dies misslang, sind wir ein Jahr später vertrieben worden. Wir wollten wie viele Flüchtlinge bei Leitmeritz über die Elbe-Brücke. Doch diese wurde gesprengt, sodass uns der Weg versperrt war. Deshalb mussten wir wieder nach Hause zurückkehren.
Warum sind Sie geflüchtet?
Wir hatten riesige Angst vor den Russen. Wir sind ja mit dem Auto geflüchtet. Das musste erst von den Soldaten, die bei uns einquartiert worden waren, gängig gemacht werden. Von ihnen haben wir auch das nötige Benzin für die Flucht bekommen. Wir hatten überhaupt das Glück, dass wir ein Auto hatten. Viele mussten zu Fuß und mit Kinderwagen, Pferdegespannen und Leiterwagen flüchten. Es waren lange Flüchtlingstrecks auf dem Weg in den Westen, weil alle aus dem Osten flohen. Die Straßen waren voll gestopft. Es gab noch nicht einmal Überholmöglichkeiten, deshalb ging es nur ganz langsam voran. Irgendwann kam der Flüchtlingstreck zum Stehen, weil die Brücke über die Elbe gesprengt worden war. Wir haben auf einem nahe liegenden Bauernhof Zuflucht gefunden. Nach mehreren Tagen sind wir dann ohne unser Auto, das wir dort stehen gelassen haben, nach Hause zurückgelaufen.
Und ein Jahr später wurden Sie dann vertrieben…?
Ja, genau, um Ostern 1946. Nach Straßen eingeteilt, wurden die Leute ausgewiesen.
Was konnten Sie denn bei der Vertreibung mitnehmen?
Meine kleinen Geschwister konnten ja noch nichts tragen, die waren noch zu klein. Aber meine Eltern und ich haben jeweils einen Rucksack und ein paar Taschen mitgenommen. Die Polen haben uns mehrmals durchsucht und uns das Wertvollste weggenommen. Auch vorher wurden wir bereits von ihnen ausgeraubt. Deswegen hatte mein Vater einige Russen dazu überredet, uns im Gegenzug für ein paar Flaschen Schnaps Schutz vor den Polen zu gewähren. Die Russen blieben bei uns, bis die Polen endlich von uns abließen. Die ganze Zeit bereit zu schießen, da sie die Oberhand über die Polen hatten.
Wie waren die Bedingungen bei der Vertreibung?
Als wir an der Grenze zur russischen Besatzungszone von den Engländern übernommen wurden, kamen wir in plombierte Viehwaggons, in denen man das Wort Hygiene nicht kannte. In einer Ecke lag ein bisschen Stroh und alte sowie junge Leute verrichteten dort ihre Notdurft.
Was fanden Sie schlimmer? Die Flucht oder die Vertreibung?
Natürlich die Flucht! Wir wurden oft von russischen Tieffliegern beschossen, jeder hat sich einfach an Ort und Stelle in den Dreck geschmissen. Wir hatten Glück, dass wir zusammengeblieben sind. Man sah die Toten am Boden liegen, doch man musste sie unbeachtet lassen. Damit der Treck weiter konnte und der Weg frei blieb, wurden die kaputten Wagen einfach in die Gräben gekippt. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich höre heute noch das Knattern der Tiefflieger.
Und wie wurden sie im Westen empfangen?
Wir kamen in Warendorf an. Dort wurden wir auf ein Gestüt gebracht. Jeweils eine Familie bekam eine Pferdebox. Von Freundlichkeit war keine Spur. Wir waren so eingeschüchtert von den schrecklichen Erlebnissen der letzten Zeit, wir trauten uns gar nicht den Mund aufzumachen. Manche sagen, dass man die Menschen, die uns beherbergen mussten, verstehen sollte. Ich kann das nicht. Sie hatten wenigstens noch ihre Heimat und ihre Bekannten, doch wir haben ALLES verloren. Wir waren völlig bezugslos und fremd.
Und wann kamen Sie dann nach Münster?
Ich habe dann 1950 geheiratet und bin nach Münster gezogen, da mein Mann hier gearbeitet hat. Man musste überhaupt verheiratet sein, um eine Wohnung zu bekommen, was zu dem Zeitpunkt, nach dem Krieg, sehr schwer war. Mein Mann und ich hatten da einen sehr netten Vermieter, der uns eine Wohnung in Münster gab, obwohl wir keine Kinder hatten. 1953 zog ich dann mit meinem Mann in das Haus, in dem wir noch heute leben.
Frau Maibaum hat für die Tagespresse insgesamt drei Berichte über ihre Erlebnisse verfasst (1996, 1998 und 2006).
«{ ^ }»